Schutzkonzept gegen sexualisierte Gewalt

Jugendburg Ludwigstein - Schutzkonzept gegen sexualisierte Gewalt

Verantwortung: Warum braucht die Jugendburg ein Schutzkonzept?

Sexualisierte Gewalt an Kindern und Jugendlichen ist in unserer Gesellschaft ein verbreitetes Problem. In den letzten Jahren hat die beginnende Aufarbeitung dieses Themas immer deutlicher gezeigt, wie viele Menschen davon betroffen waren und sind.

Auf der Burg Ludwigstein fing der „Arbeitskreis Schatten der Jugendbewegung“ 2010 damit an zu fragen, wo in den Gruppen und Einrichtungen der Jugendbewegung sexualisierte Gewalt an Kindern und Jugendlichen verübt wurde und wie solche Übergriffe künftig verhindert werden können. Weit über die bis dahin bekannten Gerüchte hinaus sind uns seitdem erschreckend viele nachweisbare Fälle bekannt geworden, auch auf der Burg Ludwigstein selbst. In enger Kooperation mit Betroffenen sexualisierter Gewalt wurde ein Netzwerk aufgebaut, das über Recherchen, Seminararbeit und Fortbildung Unterstützung anbietet: für individuelle Aufarbeitung, für Jugendbünde, die ein Schutzkonzept erarbeiten wollen, aber auch für Forschungen, mit denen insbesondere die historische Dimension dieser Verbrechen aufgeklärt wird.

Das Archiv der deutschen Jugendbewegung, seit 1922 Bestandteil des Erinnerungsortes Ludwigstein, verwahrt Dokumente, die belegen, in welchem Ausmaß Jugendbünde und Einrichtungen wie Jugendburgen oder Gruppenhäuser immer wieder auch Orte sexualisierter Gewalt waren. Dabei spielte die Ideologie des „pädagogischen Eros“ eine fatale Rolle: Angelehnt an vermeintliche antike Vorbilder wurde die intensive Hinwendung eines älteren Führers zu einem jüngeren Schüler, unter Einschluss körperlichen und seelischen Zugriffs, als ideale Erziehungsform fabuliert. Druckschriften, Fotografien, Briefe usw. zeigen, welche Reichweite dieses Konstrukt, das – noch weitergeführt – „Männerbünde“ zur Grundlage eines Staatswesens erhob, entfaltet hat.

Ein Beispiel für die Kultur des Verschweigens sexualisierter Gewalt stellt der in der Jugendbewegung und in der Reformpädagogik lange Zeit hoch angesehene und einflussreiche Gründer der Freien Schulgemeinde Wickersdorf, Gustav Wyneken (1875–1964) dar, der bereits 1920 wegen sexuellen Missbrauchs an seinen Schülern verurteilt worden ist und dessen umfangreicher Nachlass sich im Archiv der deutschen Jugendbewegung befindet. Auch in der auf öffentlichen Druck hin 2015 geschlossenen Odenwaldschule, einem weiteren reformpädagogischen Vorzeigeprojekt, kam es wiederholt zu sexuellen Übergriffen. Zwischen 1972 und 1985 hat sich dort ein System von Personen und Abhängigkeiten etabliert, in dem Schüler*innen sexuellen Übergriffen ausgesetzt waren. Die meisten der dortigen Täter waren mit dem jugendbewegten Milieu eng verbunden.

Als Burg, die seit 1920 von jungen Menschen für ein naturverbundenes, selbstwirksames und gemeinschaftliches Jugendleben erhalten und ausgebaut wird, stellen wir uns der Verantwortung auch für diesen Teil unserer Geschichte, der als Schatten über dem vielen Positiven liegt, was die Jugendbewegung ausmacht. Nur wenn wir wahrnehmen, welches Leid Kindern und Jugendlichen auch bei uns widerfahren ist, wenn wir für Aufarbeitung sorgen und den Betroffenen eine Stimme geben und nur wenn wir alles dafür tun, dass solche Verbrechen künftig verhindert werden, kann sich dieser Ort auch in den nächsten 100 Jahren zu Recht Jugendburg nennen.

 

Definitionen: Was verstehen wir unter sexualisierter Gewalt?

Sexualisierte Gewalt ist ein individueller, alters- und geschlechtsunabhängiger Übergriff. Damit wird jede sexuelle Handlung bezeichnet, die an oder vor einem anderen Menschen unter Ausnutzung von Macht- oder Autoritätsverhältnissen gegen dessen Willen vorgenommen wird. Dazu zählen auch sexuelle Handlungen, denen ein Mensch aufgrund körperlicher, seelischer oder sprachlicher Unterlegenheit nicht zustimmen kann.

Sexualisierte Gewalt beginnt bei verbal-anzüglichen Belästigungen, voyeuristischem Taxieren des Körpers, aber auch flüchtigen Berührungen des Genitalbereichs oder der Brust über der Kleidung. Versehentliche oder aus Unwissenheit begangene sexuelle Grenzverletzungen sind unter Umständen in einem Gespräch zu klären. Erfolgt diese Grenzverletzung absichtlich und planvoll, ist es ein sexueller Übergriff.

Um Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung handelt es sich, wenn sexuelle Handlungen am Körper stattfinden, wie Zungenküsse oder Manipulation der Genitalien. Zu den schweren Formen zählen Vergewaltigungen aller Art: vaginal, oral, anal. Ebenso strafbar sind Handlungen, die den Körper nicht direkt einbeziehen, z. B. wenn jemand vor Kindern und Jugendlichen masturbiert, sich exhibitioniert, gezielt pornografische Darstellungen zeigt oder zu sexuellen Handlungen – beispielsweise auch vor der Webcam – auffordert. In all diesen Fällen spricht das Strafgesetzbuch von sexuellem Missbrauch.

 

Verdachtsstufen: Wie erkennen wir sexualisierte Gewalt?

Jeder Mensch hat individuelle Schamgrenzen, über die er nicht hinausgehen möchte. Diese Grenzen zu respektieren und zu schützen, sehen wir als unsere Aufgabe. Sexuelle Gewalt lässt sich als Grenzverletzung aber nicht immer zweifelsfrei erkennen, oft existiert nur ein Verdacht. Umso wichtiger ist es uns, aufmerksam zu sein, wenn sich jemand anvertraut. Auch falls wir selbst Beobachtungen machen, die ein „flaues Gefühl“ hinterlassen, nehmen wir diese ernst.

Täter*innen nutzen in der Regel ihre Autoritätsposition oder Vertrauensstellung aus, um ihre eigenen Bedürfnisse auf Kosten Anderer zu befriedigen. Dabei geht es um Machtausübung durch sexualisiertes Handeln, das einhergeht mit einer dem Kind oder Jugendlichen auferlegten Verpflichtung zur Geheimhaltung. Die Betroffenen werden sprach- und hilflos, empfinden Schuld und Scham.

 

Zur besseren Einschätzung definieren wir vier Verdachtsstufen:

Bei unbegründetem Verdacht lassen sich die Verdachtsmomente durch überprüfbare Erklärungen zweifelsfrei als unbegründet ausschließen. Der vage Verdacht enthält Verdachtsmomente, die (auch) an sexuellen Missbrauch denken lassen, z. B. sexualisiertes Verhalten oder Distanzlosigkeit zwischen Kindern und Erwachsenen. Ein begründeter Verdacht liegt bei erheblichen und plausiblen Verdachtsmomenten vor, z. B. wenn ein Betroffener detailliert von sexuellen Handlungen berichtet. Existieren Beweismittel, z. B. wenn Täter*innen direkt bei sexuellen Handlungen beobachtet wurde/n, oder wenn Fotos bzw. Videos vorliegen, die sexuelle Handlungen zeigen, handelt es sich um einen erwiesenen Verdacht.

Der Schutz der Betroffenen hat bei unseren Entscheidungen Vorrang. Deshalb behalten wir uns vor, Menschen unter Verdacht von Veranstaltungen auszuschließen. Ebenso wissen wir um die Gefahr falscher Anschuldigungen, weshalb wir sensibel mit Vorwürfen umgehen. Rehabilitation hat für uns den gleichen Stellenwert wie die Verdachtsverfolgung.

 

Haltung: Dazu verpflichten wir uns selbst.

Wir treten jeder Form von Entwürdigung, Abwertung oder Ausgrenzung entgegen, beziehen Stellung gegen sexistisches, diskriminierendes oder gewalttätiges Verhalten und gehen aktiv dagegen vor. Dabei behandeln wir jeden Menschen fair und machen unsere Entscheidungen gegenüber anderen transparent. Diese Haltung ist integraler Bestandteil jeder Tätigkeit auf der Jugendburg Ludwigstein und dauerhafte Verpflichtung aller, die hier zur Erfüllung unserer Aufgaben hauptberuflich, nebenberuflich oder ehrenamtlich mitarbeiten. Drei Beispiele sollen unsere Haltung verdeutlichen:

Wer weint, ist „weinerlich“, wer nicht still sitzen kann, hat ADHS und wer verliert, ist Opfer oder Versager. So möchten wir über Kinder und Jugendliche weder sprechen noch denken. Stattdessen achten und respektieren wir Kinder und Jugendliche und gehen ehrlich und verantwortungsbewusst mit Ihnen um. Auch wenn sie kleiner sind, jünger, sich noch nicht so gut ausdrücken können, nerven, schweigen oder protestieren – jedem jungen Menschen sichern wir seine Einzigartigkeit zu, seine Würde und sein gesetzlich verankertes Persönlichkeitsrecht.

Als „schwule S…“ oder „blöde Schla…“ von Gleichaltrigen beschimpft zu werden, ist genauso grenzverletzend, wie Schulkinder auf dem Schoß von Pädagog*innen, Gruppenleiter*innen, die neben Jüngeren im Zelt schlafen, Ansagen, dass die Jugendgruppe jetzt gemeinsam nackt baden geht oder Bemerkungen über das Aussehen. Wir schützen Kinder und Jugendliche mit ihren eigenen, ganz persönlichen Schamgrenzen, über die sie nicht hinausgehen möchten. Die Verantwortung für die Gestaltung der Beziehung und das Einhalten von Grenzen liegt bei uns Erwachsenen. Es ist unsere Aufgabe, den Schutz der Kinder und Jugendlichen zu gewährleisten.

Mädchen und Jungen mit besonderen Kosenamen wie „Schatz“ oder „Liebste“ anzusprechen, die vermeintlich scherzhafte Aufforderung zum Kuss, wiederholtes Flirten, Ausfragen nach sexuellen Erfahrungen, der Tausch von Alkohol gegen sexuelle Gefügigkeit oder der Schwur, ein Liebesgeheimnis zu wahren, ist falsch und darf keine Normalität zwischen Erwachsenen und den ihnen anvertrauten Kindern oder Jugendlichen sein. Sexuelle Übergriffe von Erwachsenen zu Kindern und Jugendlichen bauen auf einem Macht-, Wissens- und Erfahrungsgefälle auf. Auch wenn Kinder und Jugendliche in ihrem Aufwachsen Grenzen hinterfragen und bei Bedarf neu ausdehnen, bedeutet das nicht, dass diese Grenzen von außen verschoben werden dürfen. Deshalb beziehen wir Stellung gegen jede Form von sexualisierter Gewalt, unabhängig von Alter und Geschlecht.

 

Verhaltenskodex: Das sichern wir Kindern und Jugendlichen zu.

Du hast das Recht, selbst zu bestimmen, wann, wo und von wem Du fotografiert oder gefilmt werden willst. Ohne Dein Einverständnis darf niemand Bilder von Dir ins Netz stellen und teilen.

Du hast das Recht, fair behandelt zu werden. Niemand hat das Recht, Dir zu drohen oder Dir Angst zu machen. Egal ob mit Blicken, Worten, Bildern, Spielen oder Taten! Niemand darf Dich erpressen, Dich ausgrenzen, abwertend behandeln oder schlagen!

Du hast das Recht, selbst zu bestimmen, wie nahe Dir jemand wann, wie und wo kommt. Niemand darf Dich gegen Deinen Willen berühren, massieren, streicheln, küssen, Deine Geschlechtsteile berühren, oder Dich drängen, das mit jemand anderem zu tun.

Du hast das Recht, NEIN zu sagen und Dich zu wehren, wenn jemand Deine Gefühle oder die von jemand anderem verletzt! Du kannst NEIN sagen mit Blicken, Worten oder durch Deine Körperhaltung!

Du hast das Recht, nicht mit zu machen, wenn Dir ein Spiel Angst macht, Du etwas eklig findest oder Du Dich unwohl dabei fühlst. Das können erniedrigende oder angstmachende Traditionen und Rituale wie Mutproben sein.

Du hast das Recht, Dir Unterstützung bei Anderen zu holen. Wenn Du Dich unwohl fühlst oder es Dir schlecht geht, ist Hilfe holen kein Petzen und kein Verrat!

 

Rat und Hilfe: So setzen wir unser Schutzkonzept um.

Unsere Gäste, insbesondere Kinder und Jugendliche, werden über ihre Rechte und über unser Schutzkonzept informiert. Sie werden ermutigt, sich Hilfe zu holen, wenn sie sich in ihrer Würde verletzt fühlen.

Auf der Jugendburg existiert eine Beschwerdestelle, bei der sich Kinder und Jugendliche, aber auch Gäste und Mitarbeitende melden können. Diese bearbeitet Beschwerden vertraulich, jedoch auch im nötigen Maße transparent im Austausch mit den Betroffenen, und kooperiert dafür mit einer Fachberatungsstelle für sexualisierte Gewalt.

Ansprechpersonen sind unsere Bundesfreiwilligen, die rund um die Uhr erreichbar sind, und darüber hinaus das gesamte Burgteam. Das weitere Vorgehen ist in einem Krisenplan geregelt.

Bei überbündischen Veranstaltungen, wie z.B. dem Beräunertreffen, stehen Mitglieder des Arbeitskreises Tabubruch als Ansprechpersonen zu den Themen sexualisierte Gewalt, Machtmissbrauch und Prävention zur Verfügung.

Über Recherchen, Seminararbeit und Fortbildungen von Jugendbildungsstätte und Archiv setzen wir die Aufarbeitung und Prävention sexualisierter Gewalt in der Jugendbewegung fort und bleiben Kontaktstelle für Betroffene.

 

Krisenplan: So handeln wir bei Verdachtsfällen von sexualisierter Gewalt.

Dieser Plan gilt, sobald eine*m/r Burgmitarbeiter*in ein Verdachtsfall sexualisierter Gewalt bekannt wird. Das kann über die direkte Ansprache durch Betroffene, deren Vertrauenspersonen oder eigene Beobachtungen passieren.

Die Burgmitarbeiter*in notiert die wichtigsten Informationen zu dem Verdacht auf einem Meldebogen und leitet diesen persönlich an eine*n Burgverantwortliche*n weiter.

Burgverantwortliche sind: 1. Burgbetriebsleitung, 2. Stellvertretung der Burgbetriebsleitung, 3. Leitung der Jugendbildungsstätte, 4. Leitung des Archivs, 5. Vorstand der Stiftung Jugendburg.

1. Burgbetriebsleitung Roland Elsas 05542 / 5017-18 & 0151/ 15050081 roland.elsas@burgludwigstein.de
2. Stellvertretung der Burgbetriebsleitung Iris Lück 05542 / 5017-10 iris.lueck@burgludwigstein.de
3. Leitung der Jugendbildungsstätte Katharina Feldmann 05542/ 5017-31 katharina.feldmann@burgludwigstein.de
4. Leitung des Archivs Dr. Susanne-Rappe Weber 05542/ 5017-21 susanne.rappe-weber@burgludwigstein.de
5. Vorstand der Stiftung vorstand@burgludwigstein.de

Wem als Burgverantwortlicher*m der Verdacht gemeldet wird, bildet im Sinne des 4-Augen-Prinzips zusammen mit eine*r weiteren Verantwortungsträger*in das Krisenteam.

Das Krisenteam untersucht den Verdacht, holt weitere Informationen ein und stellt auf dieser Basis fest, ob dieser unbegründet, vage, begründet oder erwiesen ist. Einbezogen werden ggf. auch die Vertrauensperson oder die Betroffene selbst.

  1. Handelt es sich um ein dringendes Problem, das sofortiges Handeln erfordert? Müssen externe Stellen einbezogen werden? (Fachberatungsstelle gegen sexualisierte Gewalt in Kassel (Annemarie Selzer), 0561-31749116; Hilfetelefon Missbrauch 0800-2255530; Jugendamt Werra-Meißner-Kreis 05651-302-1452; Polizei Witzenhausen 05542-93040)
  2. Ist der Fall nicht akut? Dann wird die Beschwerdestelle eingeschaltet, in der alle Burggremien vertreten sind. Diese sorgt für die Lösung und den Abschluss des Falles, für die Transparenz gegenüber dem Betroffenen und anderen Beteiligten (z.B. Nachfragen, Mitteilungen, Rehabilitation, Abschlussbericht).

Die Erarbeitung des Schutzkonzeptes erfolgte in einer breit aufgestellten Arbeitsgruppe mit Vertreter:innen aus dem Archiv der deutschen Jugendbewegung, der Jugendbildungsstätte Ludwigstein, des Stiftungsvorstandes, des Kuratoriums, der Vereinigung Jugendburg Ludwigstein, des Herbergsbetriebs und des Bauhüttenkreises. Die Erarbeitung fand unter der Leitung der Kasseler Fachberatungsstelle bei sexualisierter Gewalt statt. Inhaltlich hat sich die Arbeitsgruppe an bereits existierenden Schutzkonzepten und den Standards des Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs orientiert. Zum Teil komplette Formulierungen wurden aus den Schutzkonzept-Empfehlungen des überbündischen Netzwerks TabuBruch übernommen. Der Vorstand der Stiftung Jugendburg Ludwigstein und Archiv der deutschen Jugendbewegung hat in seiner Sitzung am 16. März 2021 das Schutzkonzept gegen sexualisierte Gewalt einstimmig verabschiedet.