Musizieren, Marschieren, Sterben

Die Musik- und Liedproduktion in der Hitlerjugend am Beispiel des Lieddichters Hans Baumann und des Musikfunktionärs Wolfgang Stumme

Jugendbildungsstätte Ludwigstein, 11.-13. November 2016

Hessische Ärztekammer, Bundesjustizministerium oder Gewerkschaft „Erziehung und Wissenschaft“ (GEW) - die Aufarbeitung nationalsozialistischer Spuren in deutschen Institutionen nach 1945 bleibt auf der Tagesordnung. Die Ergebnisse zeigen, nicht wenig überraschend, dass oftmals ohne große personellen Brüche weiter geheilt, gerichtet oder erzogen wurde. Auch Akteuren der hochsubventionierten Musikpolitik des NS-Regimes gelang es, ihre in der Reichsjugendführung der Hitlerjugend gestarteten Blitzkarrieren in der Bundesrepublik erfolgreich fortzusetzen. Am Beispiel von Hans Baumann, der aus der Jugendbewegung kam, und Wolfgang Stumme wollten wir im Seminar sowohl die Rolle der HJ-Musikreferate mit ihren volksgemeinschaftlichen, soldatischen und letztendlich tödlichen Erziehungszielen beleuchten, als auch die Selbstreflexion ihrer Protagonisten nach 1945 in den Blick nehmen. Und so trafen gut 20 Interessierte Mitte November des letzten Jahres auf dem Ludwigstein zusammen, um sich auf Einladung der Jugend-bildungsstätte mit der Musik- und Liedproduktion in der Hitlerjugend auseinanderzusetzen. Als Einstieg diente uns am Freitagabend noch vor den ersten Kamingesprächen eine ausführliche Burgführung rund um den Facettenreichtum des Ludwigsteins als Ort von Begegnung, Bildung, Wissenschaft und Gedenken.

Dr. Karin Stoverock, Historikerin am NS-Dokumentationszentrum Köln, eröffnete am Samstag die Referatsfolge mit Schlaglichtern auf Hans Baumann, den "Künder der neuen Generation“. Der aus dem katholischen Bund Neudeutschland stammende Hans Baumann (1914-1988) war als NSDAP-Mitglied, Kulturreferent der Reichsjugendführung, HJ-Bannführer und Propagandaoffizier einer der wirkmächtigsten Liedermacher des NS-Regimes. Ab 1949 wurde er zu einem der erfolgreichsten deutschsprachigen Autoren von Kinder- und Jugendbüchern. Karin Stoverock widmete sich, u.a. mit originalen Tondoku-menten, der Debatte um Hans Baumanns populärstes Lied „Es zittern die morschen Knochen“. Sie wies nach, wie erfolglos Baumann sich bemüht hatte, die Aggressivität seines bereits 1932 entstandenen Liedrefrains (Denn heute da hört (gehört) uns Deutschland, und morgen die ganze Welt), über Textkorrekturen wieder einzufangen. Darüber hinaus legte der Vortrag offen, wie stark das Baumannsche Liedschaffen von einer expansiv-raumerobernden Ostland-Ideologie durchsetzt war.

Helm König erweiterte dann als kenntnisreicher Musikverleger (Thorofon) den Blick auf Hans Baumann. Zum einen über Nachweise seiner rastlosen Lied- und Liederbuch-produktion aus der HJ-Reichsjugendführung heraus und zum anderen über die Skiz-zierung seiner ambivalenten Rolle (lernte Russisch, beschwor den Schicksalskampf) als Propagandaoffizier der Wehrmacht im Krieg gegen die Sowjetunion. Eine in Teilen kontroverse Diskussion entspann sich um die Bewertung des wahrscheinlich letzten Liedes, dass Baumann im 1944/1945 an die NS-Jugend richtete: „Ehe wir von Deutsch-land lassen, lassen wir von unserm Leib“. Für einen Teil der Seminarteilnehmer spricht daraus ein brutaler Zynismus, weil Baumann wissend die deutsche Jugend mit seinem Lied auf den Lippen in den aussichtslosen Endkampf schickt. Klar wäre damit zudem auch, dass Baumann sich eben nicht, wie oft behauptet, von Hitlers Regime distanziert hatte. Andere Teilnehmer wandten ein, dass diese Form der Untergangslyrik auch schon weit vor dem Krieg sehr populär war.

Es folgte ein spannender Vortrag von Prof. Jürgen Reulecke, der als Historiker uns die Lebensstationen von Wolfgang Stumme (1910-1994) einordnete. Stumme leitete als NSDAP-Mitglied und HJ-Hauptbannführer die Abteilung Musik im Kulturamt der Reichs-jugendführung, war Abteilungsleiter der Reichsmusikkammer und später Kriegsleiter des Amtes Musik in der Reichspropagandaleitung der NSDAP. Jürgen zählt den NS-Multi-Musikfunktionär als klassischen Schreibtischtäter zur „Generation des Unbedingten“, denn als „perfideste Ausprägung der Musikwissenschaft“ rief Stumme u.a. dazu auf, nach der NS-Gesellschaft auch die Musik von allem Jüdischen „zur Rettung des deutschen Blutstroms“ zu bereinigen. Nach 1945 ist er aktiv im jugendbewegt Freideutschen Kreis und, was ihn von vielen NS-Tätern unterscheidet, auch bereit, seine Schuld zu erkennen und einzugestehen. Stumme übernimmt in den 1950er Jahren eine Jugendmusikschule und bildet ab 1964 als Dozent an der Folkwang Schule in Essen Musikerzieher aus.

Für historische Sensibilität und einen genauen Blick für politische Ambivalenzen warb abschließend der Berliner Unternehmer und Kulturveranstalter Roland Wehl mit seinem Vortrag „Nur der Freiheit - Vom Lied zum Geschichtsverständnis“. Mit Hilfe von biogra-phischen Miniaturen nahm er exemplarisch die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts zwischen Diktatur und Demokratie in den Fokus: am Beispiel der Freunde Hans Ludin (späterer SA-Obergruppenführer) und Richard Scheringer (nach 1945 KPD-Funktionär), mit Blick auf Willi Graf und Hans Baumann (beide aus dem Bund Neudeutschland) oder anhand des Lebenslaufes von Hans-Joachim Schoeps, der als nationaler Jude Hitlers Machtergreifung begrüßte und später fest davon ausging, dass seine Verbannung von der Universität auf einem Irrtum beruht. Wie kontrovers das Anknüpfen an im National-sozialismus entstandenes Liedgut auch heute noch diskutiert wird, zeigt die 2014 von Wehl selbst ausgelöste Debatte um das Bundeslied des Freibundes aus der Feder Hans Baumanns. „Nur der Freiheit gehört unser Leben“ war eines der zentralen Feierlieder des NS-Regimes und hielt sich auch nach 1945 als Erkennungsmelodie des rechten Spektrums. Welche Geschichts- und Traditionsverständnisse sich rund um das Lied scheinbar unüberbrückbar gegenüberstehen, thematisierte Wehl im zweiten Vortragsteil. 

In der Auswertungsrunde des Seminars entspann sich tendenziell eine Diskussion der Generationen über das Singen von grenzwertigen Liedern (Stichwort: Soldatenkiste, FDJ-Kiste) in Lagerfeuer-Singerunden. Eher Jüngere warben für eine kritische Hinterfragung mit möglicher Aussortierung solchen Liedgutes während mehrere Ältere meinten, dass Singen emotional sei, auch Loslassen bedeutet und die zweifelhaften Texte sowieso als nachrangig wahrgenommen würden. Der eher saloppen Haltung „Wir können so was schon mal singen, denn wir wissen ja, dass wir es nicht so meinen.“ konnte sich keiner der Jüngeren anschließen. Abschließend waren sich dennoch alle einig, am Thema und an der Diskussion, z.B. im Rahmen eines Folgetreffens, anknüpfen zu wollen.

Stephan Sommerfeld

Prof. em. Jürgen Reulecke: Seelenverformung durch Musikpolitik (über den Nachlass von Wolfgang Stumme)

Roland Wehl: Die Schwierigkeiten auf dem Weg zu einem reflektierten Traditionsverständnis (über den Streit um ein Lied)
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Stiftung Jugendburg Ludwigstein