Volkskundler_innen auf Burg Ludwigstein

Der Jugendburg Ludwigstein als Erinnerungsort und Kriegerdenkmal näherten sich vom 14.-16.01. knapp 30 Studierende der Europäischen Ethnologie/Volksunde aus Kiel in einer dreitägigen Exkursion.
Donnerstag, 14. Januar 2016 gegen 20 Uhr: Eine größere Gruppe Studierender sammelt sich trotz Nässe und Kälte auf der Steintreppe des Burghofes, symbolisch werden Textbausteine von Hand zu Hand weitergereicht. Sie verweisen auf den idealistischen Neuaufbau der Burg durch jugendbewegte Helfer zu Beginn der 1920er Jahre und sind bis heute im Erinnerungshaushalt der „Ludwigsteiner“ präsent durch zwei Fotografien von Julius Groß, die jugendbewegte Menschenketten zeigen, die Bausteine für den Ausbau der Burg weiterreichen. Die Fotografien sind nicht nur als Postkarte im Burgkiosk erhältlich, sondern gehören als performative Praxis zum Repertoire der von der Jugendbildungsstätte angebotenen Geschichtsvermittlung, die als „History Tour“ in die Geschichte der Burg als Begegnungsort der Bünde der deutschen Jugendbewegung einführen will.  

Nachdem die Textsteine durch Hände der Studierenden gereicht wurden rezitieren alle den pathetischen Aufruf zum Erwerb der Burg Ludwigstein aus dem Jahr 1920:

"Meißnerjugend von 1913, es gilt eine Tat, und es gilt, sie rasch zu tun …] Hier ist Gelegenheit der ganzen Welt zu zeigen, was Jugendkraft und Begeisterung vermag, wie Schaffensfreude und Sehnsucht nach einem Ziele alle kleinen Schranken niederreißt und Euch alle, Jung und Alt, aus allen Bünden vereint zum gemeinsamen Werk, zum Aufbau des Erinnerungsmales für unsere Gefallenen."

Erinnerungsmal für die im Ersten Weltkrieg gestorbenen jugendbewegten Soldaten und Begegnungsort „aller Bünde“:  Bis heute sind dies über Satzungen festgeschriebene, zentrale Pfeiler der Jugendburg. Zudem ist die Burg Sitz des Archivs der deutschen Jugendbewegung und begreift sich als Brücke zwischen Jugendbewegung und Gesellschaft. Dadurch war und ist die Burg ein wichtiger Ort der sich in der Tradition der deutschen Jugendbewegung verstehenden Gruppierungen, von denen einige die Burg aufgrund ihrer hohen symbolischen Bedeutung zu ihrem Gründungsort bestimmten. Dabei ist die Erinnerungskultur der Burg bestimmt durch vielfältige, teilweise widersprüchliche Formen: So ist die Burg ein Ort, an dem in den Vergangenheit durch eine Büste dem toten Freikorpskämpfer und Wandervogel Helmut Noack ebenso gedacht wurde wie dem als Pazifisten von Freikorps ermordeten Hans Paasche durch eine Linde direkt vor der Burg. Akteure aus der jugendbewegten Burggeschichte stammten sowohl aus der sozialistischen Arbeiterjugend als auch aus dezidiert „völkischen“ Wandervogelgruppierungen. Kein Wunder, dass dieser Ort immer auch ein umstrittener, hoch emotionaler Ort war – ein Ort, der geprägt ist durch vielfältige  Aneignungsoptionen und Aushandlungsprozesse zwischen den verschiedenen Akteuren auf der Burg. Auf gewisse Weise ein typisches Denkmal und ein üblicher Erinnerungsort. Ein Ort, der volkskundlich-ethnologisches Interesse weckt!

Nachdem der erste Tag direkten Erkundungen in und um die Burg galt und manche Fragen aufwarf, stand am zweiten Tag das Archiv der deutschen Jugendbewegung im Mittelpunkt. Zunächst führte die Leiterin des Archivs Dr. Susanne Rappe-Weber durch die Archivräume und gab eine Einführung in die Archivarbeit. Im Anschluss widmeten sich Kleingruppen mittels konkreter Fragen ausgewählten  archivalischen Quellen. Vom „Mythos Feldwandervogel“ über die verschiedenen Aspekte der Erinnerungskultur auf der Burg bis hin zu Genderfragen zum  „1. Freideutschen Jugendtag“ wurde viel erarbeitet und diskutiert. Am Abend fanden sich einige Studierende noch um das Feuer herum mit Handwerkern, die von der Walz und gemeinsamen internationalen Projekten zum Erhalt und Austausch „historischer Handwerkskultur“ berichteten. Noch bis tief in die Nacht hinein erklangen gemeinsame Lieder.
Der letzte Tag führte aus den historischen Archivquellen kommend hinein in die Gegenwart und die Debatte innerhalb der heutigen Jugendbünde um das eigene Selbstverständnis. Eine Debatte in der es auch darum geht, welche Anknüpfungspunkte aus der jugendbewegten Geschichte noch legitime identitätsstiftende Funktion für heutige Bünde haben können und wie die Geschichte der eigenen Jugendkultur interpretiert, festgeschrieben und vermittelt wird. Stephan Sommerfeld gab als Leiter der Jugendbildungsstätte Ludwigstein einen Überblick über die  Konflikte und Spannungen rund um das 100 Jährige Jubiläum des „Freideutschen Jugendtags“, innerhalb dessen die Jugendburg Ludwigstein sich versucht hatte als offener Ort des Austausches und der Begegnung zu positionieren. Ergänzend berichteten Sprecher eines „Dialogs der Bünde“ von den teils hochemotionalen und politischen Dynamiken innerhalb der Bünde und dem Versuch, gemeinsame Zugangskriterien für die Jugendburg Ludwigstein zu erarbeiten.

Wir bedanken uns bei allen Personen aus der Jugendbildungsstätte, dem Archiv der Jugendbewegung, der Herberge und dem Dialog der Bünde für den anregenden Aufenthalt!

Sven Reiß

Workshop für Jugendbewegungsforschung
Archive als Player der Aufarbeitung
8.-10. Juli 2022
Jugendburg Ludwigstein → Flyer

Weitere Informationen
Jugendbildungsstätte Ludwigstein
Stephan Sommerfeld
Tel.: 05542-501731
E-Mail: stephan.sommerfeld@burgludwigstein.de

Rückblick auf die Archivwerkstatt 2014
Direkt zum → Bericht
 

Stiftung Jugendburg Ludwigstein